Der 3905 Meter hohe Ortler war das Zentrum unserer Tour. Dieses mächtige Fels- und Gletschermassiv ist die höchste Erhebung des gesamten Tirols. Seit Menschengedenken prägt das geheimnisvolle Dreigestirn von Ortler, Zebru und Königsspitze das Leben in den umliegenden Tälern. Wilde Grate, steile Wände und mächtige Gletscher zogen uns tief in den Bann. Über die höchsten Übergänge und auf den spektakulärsten und längsten Trails der Ostalpen tauchten wir eine Woche lang hinein, in die entlegensten Talfluchten der Ostalpen.
Schon der Start der Tour ist Singletrail-Genuss vom Feinsten. Verspielt zieht er durch duftende Lärchenwälder und bereits wenige Minuten nach dem Start haben wir unsere «Betriebstemperatur» erreicht. Die letzte Alp mit dem letzten Brunnen ist erreicht – ab nun geht’s hinein in die Einsamkeit. Der Weg schlängelt sich aus dem Tal empor bis zum Grenzkamm – hier sehen wir das erste Mal den mächtigen Ortler. Wir folgen dem schmalen und abschnittsweise exponierten Weglein. Vor uns türmt sich der Piz Bernina mit seinem weltbekannten Biancograt – er ist der östlichste 4000er der Alpen – in den Himmel. Ein kleines und längst aufgelassenes Zollhäuschen liegt am Weg. Die stationierten Zöllner sollten einst den Schmuggel unterbinden.
Unvermittelt biegen wir nun ab ins weglose Gelände. Steine und Geländestrukturen habe ich mir bei meiner Rekkotour genau gemerkt. 150 Tiefenmeter Freeride ist angesagt und wir stehen unvermittelt auf einem Traumtrail. Wir jauchzen und geniessen die rasante Fahrt auf einem völlig unbekannten Trail ins Tal.
Während die Österreicher den Ortler befestigten, bauten die Italiener auf der gegenüberliegenden Seite unzählige Gefechtsstellungen und verbanden diese mit einigen der spektakulärsten Militärwegen. Heute ist hier längst Ruhe eingekehrt und wir biken durch den 130 Quadratkilometer grossen Stelvio-Nationalpark. Diese Wege sind wahre Kunstwerke – unglaublich mit welcher Eleganz diese ins steile Gelände hineingebaut wurden.
Zweimal überqueren wir die 2800 Meter-Marke. Das Wetter zeigt sich von der garstigen Seite. Wir sind im letzten langen Uphill bevor die unendliche Abfahrt startet. Nebel zieht auf und die Sicht beträgt schon bald keine 20 Meter mehr. Im glazial geprägten Gelände den Trail zu finden und die Gruppe beisammenzuhalten ist eine Herausforderung. Zwei Stunden knackige Trailabfahrt durch verschiedene Vegetationsstufen – ein Erlebnis das definitiv prägt.
Der langsam aufkommende Regen kündigt an was uns morgen erwarten wird… Ein Regentag mit grossen Regenmengen… Ich plane um, denn bei diesen Bedingungen auf über 3000 Meter zu biken ist zu riskant.
Am 4. Tourentag erreichen wir Täler und Übergänge welche bereits zur Steinzeit begangen wurden. Hier befindet sich die weltweit grösste Fundregion prähistorischer Petroglyphen. Rund 300’000 Objekten sind über einen Zeitraum von rund 10’000 Jahren entstanden.
Alte Militärwege leiten uns immer weiter hinein ins wilde Hochgebirge. Die Gletscher des nahen Adamello-Massivs sind zum Greifen nach und wunderschön. Einmal mehr erwarten uns Trail-Kunstwerke. In den vergangenen 100 Jahren hat das wilde Bergwetter aber auch seine Spuren hinterlassen. Das macht das Ganze umso spannender. Durch die entlegensten Winkel fahren wir durch atemberaubende und menschenleere Hochgebirgsregionen. Der lange Abfahrtsritt ist ein Hochgenuss. Etwas Abseits der bekannten Routen und Regionen findet man bis heute noch ganz viel Unbekanntes und enorm Spektakuläres. Eine weitere Etappe die sich tief in unsere Bikerherzen eingebrannt hat. Der Hüttenwart am Abend beglückwünscht uns zu dieser Tour und tischt uns eine entsprechend grosse Portion Pasta auf.
Der heutige Morgen beginnt mit einem Downhill-Feuerwerk. Er stimmt uns ein in einen Tag der weitere Massstäbe setzen wird. Im langen Haupt-Uphill fahren wir immer weiter hinein in eine wild-urtümliche Hochgebirgslandschaft. Ein weiteres Mal sind Fels und Gletschereis zum Greifen nah. Die Berge um uns herum ragen fast senkrecht in den Himmel. Und so steigen auch unsere Trails mächtig an. Die 3000-Meter Marke ist geknackt. Diese Täler sind einzigartig schön, unendlich lang und führen uns in einige der entlegensten Regionen der Ostalpen. Nur Dank dem Militär sind diese für uns mit dem Bike erreich- und erlebbar. Unendlich lange führt eine weitere Abfahrt durch mehrere Vegetationsstufen dem Tal entgegen. Unsere Eindrücke müssen wir erst mal sortieren. Kaum fassbar was wir gerade erlebt haben…
Am letzten Tag tauchen wir hinein ins Reich der Schmuggler. Hier im Grenzgebiet zwischen der Schweiz und Italien war dies einst ein wichtiger Wirtschaftszweig. Heute noch erzählt man sich, wie damals von Schokolade bis zu Kühen alles Mögliche heimlich transportiert wurde. In gewissen Regionen entwickelte sich sogar eine Schmuggler-Kultur wie hier in der Grenzregion Engadin-Lombardei. Jährlich wurden rund tausend Tonnen nach Italien transportiert. Auf der Schweizer Seite lief alles legal ab. In Bundesbern wurde sogar eine Administrativ-Bezeichnung für diese Art von Ausfuhr kreiert: «Export zwei». Für Rom war es Schmuggel, den es zu unterdrücken versuchte. Der unersättliche Schwarzmarkt Italiens stellte aber jeden anderen Grenzverkehr in den Schatten.
Über Pässe, durch Täler und an Seen entlang schlängeln sich die Trails mitten durch eine Bilderbuchlandschaft. Was für ein Finale. In den Bergen ist um diese Jahreszeit längst Ruhe eingekehrt – wir geniessen die Farben, die klare Luft und diese einzigartige Stimmung welche wir zusammen erleben dürfen.
Euch allen ein riesiges Danke für all die schönen Momente und den Bikespirit den wir zusammen geniessen durften. Einfach schön.
Danke Jürg für deine umsichtige Betreuung und den Gepäcktransport auf diesem wunderschönen Cross. Una grande grazie mille a tutti!
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