Im Grenzgebiet zwischen den Cottischen Alpen und den Seealpen tauchten wir ein in das wild-alpine Piemont. Eine Alpenregion, die sich in den letzten Jahrhunderten – abgesehen von der Abwanderung – wenig verändert hat. Auf atemberaubenden und extravagant angelegten Militärtrails erlebten wir eine Landschaftsszenerie, die sich ganz tief in unser Bikerherz eingebrannt hat.
In den wilden Seealpen wurde von den Strassenbaumeistern des 2. Weltkrieges alles abverlangt. Das Gelände ist rau, das Gestein ist hart und die Berghänge sind enorm steil. In einem schmalen Coulvar – begrenzt von senkrechten Felsflanken – schraubt sich dieser Weg in vielen Serpentinen zum schmalen Passübergang hoch. Genügend Platz gibt es kaum und so musste weiter oben für eine Serpentine gar ein Tunnel gebohrt werden. Leider ist das Wetter in den ersten drei Tagen labil. Wegen Wolken und Nebel können wir die Wucht dieser Alpenlandschaft zeitweise nur im Ansatz erkennen. Das geplante Tourenprogramm stelle ich etwas um, so dass wir auch in diesen Tagen das grösst mögliche Bikeerlebnis haben.
Über mehrere Pässe und durch unzählige Täler biken wir stundenlang durch das menschenleere Grenzgebiet von Stura-, Maira- und Ubayetal. Hier erleben wir auf eindrucksvollste Art den Kontrast zwischen der West- und Ostseite des Alpenhauptkamms. Während es auf der Westseite weich geschwungen ist (Bild oben) sind es auf der Ostseite tiefe Wandfluchten (Titelbild). Heute ist dies das Land der einsamen Hirten mit ihren grossen Schafherden. In dieser Landschaft und auf diesen Trail erleben wir meinen persönlichen „Bikehimmel“.
Der Militärpfad schlängelt sich mit über 50 Kehren zum Grenzkamm hoch. Eine italienische Festung befindet sich 150 Höhemeter vor der Passhöhe. Nach dem 2. Weltkrieg wurden die Grenzen neu verlegt und so befindet sich diese Anlage heute auf französischem Territorium. Aus den Seelapen hinaus blicken wir Richtung Norden zu den Cottischen Alpen. Wir sind mitten drin in einer Tour, welche uns mit der enormen und wilden Abgeschiedenheit der Seealpen voll erfasst und nachhaltig prägen wird.
Mehr denn je wird uns bewusst, dass kein Aufwand zu gross war, um auch in die entlegensten Winkel einen Weg zu bauen. In kaum einer anderen Alpenregion entstanden zwischen 1500 und 1945 mehr Militärwege als im Valle Stura. Nur dank diesem umfangreichen Wegenetz können wir heute mit dem Bike in eine der urtümlichsten und wildesten Alpenlandschaften vordringen. Zahlreiche Pflanzenarten, die hier existieren, sind Endemiten wie z.B. der Argentera Steinbrech, der noch aus der Zeit der Dinosaurier stammt. Sie blüht einmal in ihrem Leben, nach etwa 30 Jahren, danach stirbt sie ab. Diese Tour führt durch die südlichsten 3000-er und die südlichsten Blockgletscher des gesamten Alpenbogens
In den südlichen Piemontesischen Tälern kann man noch die okzitanische Kultur und Sprache erleben. Nirgends hatten die Alpen eine marginalere Veränderung als hier. Die Industrialisierung und der Tourismus blieben fast gänzlich aus. Das tief unter uns liegende Neraissatal hat in den letzten 100 Jahren eine Abwanderung von 99,3% erlebt! Während 1890 noch 550 Personen hier lebten, so sind es heute noch deren vier. Eine dieser vier Personen haben wir hier oben auf einer alten Vespa getroffen. Sie hat wohl zu ihren handvoll Kühen geschaut. Im Hintergrund der sagenumwobene Wiesenkamm wo gemäss einer Sage jeweils bei Vollmond, eine weisse Stute in wildem Ritt drüber galoppiert.
Wir biken über längst aufgegebene Alpweiden. Die Natur holt sich das Territorium zurück, welches ihr die Menschen während Jahrhunderten in harter Arbeit abgerungen haben. Eine einst blühende Kulturlandschaft verwildert langsam. Das unglaubliche Wegenetz, die vielfältigen Traditionen und die reich verzierten Kirchen sind noch Zeugen dieser Zeit. Ein Stück davon können wir auf unseren Bikes noch erfahren und erleben. Eine Gegebenheit, die mich hier im wilden Piemont immer wieder tief beeindruckt.
Es ist für mich ein Privileg und eine unglaubliche Freude, dass ich euch dies zeigen durfte und mit euch zusammen meine «zweite Heimat» erleben konnte. Grazie mille für all diese tief greifenden Emotionen!
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