Da wo die Cottischen Alpen auf die Seealpen treffen, ist das Piemont besonders wild und einsam. Die Region ist stark von der Abwanderung geprägt und der «moderne» Tourismus konnte hier nie Fuss fassen. Dies führte dazu, dass diese Berge und Talschaften bis heute einzigartig und ursprünglich geblieben sind. Über Jahrhunderte ist eine fast unglaubliche Fülle an spektakulärsten Trails entstanden. Die Fertigkeit und das Können, mit welcher vor allem die alten Militärtrails ins hochalpine Gelände hineingebaut wurden, ist atemberaubend. Auf ihnen erlebten wir ein Trail-Feuerwerk in einer der wildesten Landschaften des gesamten Alpenbogens.
Bis zu einer beeindruckenden Bunkeranlage führt dieser steile Trail. Von hier oben konnte man, im 2. Weltkrieg, die natürliche Engstelle des Sturatals kontrollieren. Mit Taschenlampen ausgerüstet schauen wir uns die labyrinthartige Anlage an. Eine üppige Vegetation und viele saftige Heidelbeeren säumen unseren Weg. Wenig später erreichen wir ein ehemaliges Schmugglerdorf. Im Winter jeweils über Monate von der Aussenwelt abgeschnitten passierte es, dass vor vielen Jahren die Leute im Dorf die Zeit vergessen hatten. Niemand im Dorf wusste das genaue Datum. Der mutigste von ihnen wagte es durch die tief verschneiten Lawinenhänge ins Tal hinabzusteigen, um rauszufinden ob das Weihnachtsfest noch bevorsteht oder ob dieses allenfalls schon vorbei ist.
Die Berglandschaft zwischen dem Valle Stura und dem Valle Maira ist wegen ihren vielen Übergängen und weiten Hochplateaus, eine besonders faszinierende Region. Auch die Geologie ist einzigartig, weshalb sie vom italienischen Staat in die Liste der besonders schützenswerten Landschaften aufgenommen wurde. Dank diesem Umstand sind die vielen alten Militärstrassen seit einigen Jahren befreit vom motorisierten Verkehr. Wir haben diese Bergwelt für uns allein. Über Pässe, durch steile Flanken und auf aussichtsreichen Kreten fahren wir mitten durch eine enorm verwinkelte Landschaft. Sich zu orientieren ist eine Herausforderung. So ergangen ist es auch einem spanischen Heer, welches sich im 16. Jahrhundert in diesen steilen Bergen verrannte. Im tief eingeschnittenen Tal unter uns kamen sie schlussendlich nicht mehr weiter. Heute trägt das völlig abgeschiedene Tal den Namen «Vallone di Spagnoli».
Über mehrere Pässe und durch unzählige Täler biken wir stundenlang durch das menschenleere Grenzgebiet von Stura-, Maira- und Ubayetal. Hier erleben wir auf eindrucksvollste Art den Kontrast zwischen der West- und Ostseite des Alpenhauptkamms. Während es auf der Westseite weich geschwungen ist, sind es auf der Ostseite tiefe Wandfluchten (Bild oben). Wir biken über längst aufgegebene Alpweiden. Die Natur holt sich das Territorium zurück, welches ihr die Menschen während Jahrhunderten in harter Arbeit abgerungen haben. Eine einst blühende Kulturlandschaft verwildert langsam. Das unglaubliche Wegenetz, die vielfältigen Traditionen und die reich verzierten Kirchen sind noch Zeugen dieser Zeit. Ein Stück davon können wir auf unseren Bikes noch erfahren und erleben. Eine Gegebenheit, die mich hier im wilden Piemont immer wieder tief beeindruckt.
Aus dem ehemals breiten Militärweg ist inzwischen ein schmaler Wiesentrail geworden. In perfekter Steigung windet er sich dem Gipfel entgegen. In den einsamen Talschaften unter uns kann man noch die okzitanische Kultur und Sprache erleben. Nirgends hatten die Alpen eine marginalere Veränderung als hier. Die Industrialisierung und der Tourismus blieben fast gänzlich aus. Das tief unter uns liegende Neraissatal hat in den letzten 100 Jahren eine Abwanderung von 99,3% erlebt! Während 1890 noch 550 Personen hier lebten, so sind es heute noch deren vier. Jetzt wo die Italiener Ferien haben wirkt das Tal belebt – sie verbringen die Tage in den alten und kühlen Steinhäusern ihrer Vorfahren. Im Hintergrund die Seealpen mit dem Cima Argentera (3297). An seinen steilen Hängen befinden sich die südlichsten Blockgletscher der Alpen.
In den wilden Seealpen wurde von den Strassenbaumeistern des 2. Weltkrieges alles abverlangt. Das Gelände ist rau, das Gestein ist hart und die Berghänge sind enorm steil. In einem schmalen Coulvar – begrenzt von senkrechten Felsflanken – schraubt sich dieser Weg in vielen Serpentinen zum schmalen Passübergang hoch. Genügend Platz gibt es kaum und so musste weiter oben für eine Serpentine gar ein Tunnel gebohrt werden. Nur dank diesen einmaligen Trails sind für uns die wilden Seealpen befahrbar. Sie fordern und fördern auch die versiertesten Biker, denn die Steigungen sind hochprozentig und die Abfahrten knackig…
Mehr denn je wird uns bewusst, dass kein Aufwand zu gross war, um auch in die entlegensten Winkel einen Weg zu bauen. In kaum einer anderen Alpenregion entstanden zwischen 1500 und 1945 mehr Militärwege als im Valle Stura. Nur dank diesem umfangreichen Wegenetz können wir heute mit dem Bike in eine der urtümlichsten und wildesten Alpenlandschaften vordringen. Zahlreiche Pflanzenarten, die hier existieren, sind Endemiten wie z.B. der Argentera Steinbrech, der aus der Zeit der Dinosaurier stammt. Sie blüht einmal in ihrem Leben, nach etwa 30 Jahren, danach stirbt sie ab.
Es ist für mich ein Privileg und eine unglaubliche Freude, dass ich euch dies zeigen durfte und mit euch zusammen meine «zweite Heimat» erleben konnte. All diese Stimmungen ob auf dem Trail, auf der Piazza beim Gelati oder beim feinen Abendessen habe ich enorm genossen. Grazie mille an euch alle für diese tiefgreifenden Eindrücke! Ein riesiges grazie mille auch an Co-Guide Ueli – das alles war Bikespirit vom feinsten.
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