Fahrtechnische Herausforderungen erwarteten uns in der piemontesischen Wildnis. Dabei erlebten wir eine uralte Kulturlandschaft mit längst vergessenen Dörfern und einer Bergwelt die nachhaltig prägt. Drei Tage tauchten wir ein in eine urtümlich geblieben Alpenlandschaft die uns um viele Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückführte.
Auf dem höchsten Punkt unseres No-Flow-Camps blicken wir hinüber zum Monte Rosa Massiv – es scheint zum greifen nah. Wir sehen auf diesem Berggipfel den höchsten Punkt der Schweiz (Dufourspitze) und zugleich den tiefsten Punkt der Schweiz (Magadino-Ebene).
Die Natur gibt den Ton an. Was ihr die Menschen über viele Jahre abgerungen haben erobert sie sich nun wieder zurück. Alpweiden und Almsiedlungen die verlassen wurden verschwinden im Wald. Übrig geblieben sind die historischen Pfade. Auf ihnen fahren wir durch eine längst vergessene Welt. Auf den von Trockenmauern gesäumten Mulattieras (Maultierpfade) spüren wir noch den Hauch piemontesischer Alpen-Geschichte. Mit Steinen wurden spektakulärste Trassees und Brücken erbaut. Als Kind erlebte ich noch, wie die alten Dorfbewohner in ihrer Arbeitstracht Heu, Ziegen und Kastanien auf ihnen transportierten.
Auf einem alten Militärweg der „Linea Cadorna“ fahren wir 2000 Höhenmeter am Stück vom Lago Maggiore bis zum höchsten Punkt unseres Bikecamps. Die „Linea Cadorna“ ist eine Verteidigungslinie zwischen dem Mont-Blanc Massiv und den Bergamasker Alpen die im 1. Weltkrieg einen möglichen Durchmarsch deutscher Truppen durch die Schweiz in die Poebene hätte verhindern sollen. Zwischen 1911 und 1916 entstanden hier insgesamt 72 km Schützengräben, 88 Artillerie-Stationen, 296 Kilometer Militärstrassen und 398 Kilometer Saumpfade.
Die Aussicht auf den Lago Maggiore wird mit jedem Höhenmeter beeindruckender – am Schluss ist der 65 Kilometer lange See gar in seiner gesamten Länge zu erkennen.
Herausforderungen gibt es überall und jeder kann seine Grenzen ausloten. Die Berge erreichen eine Höhe von rund 2‘200 Metern. Der Höhenunterschied zum Talboden beträgt 2‘000 Meter und dies auf einer ausgesprochen kurzen Distanz. Entsprechend spektakulär und tief eingeschnitten sind die wilden Täler. Über der Waldgrenze sehen wir die gletscherbedeckten 4000-er vom Gran Paradiso über das Monte-Rosa Massiv bis zur Mischabel-Gruppe.
Das wilde Weglein fordert volle Konzentration und viel Fahrtechnik-Raffinesse. Es ist der Start zu einer Abfahrt, die in ihrer Art wohl einzigartig ist und nachhaltig prägt. Von den aussichtsreichen Höhen fahren wir hinunter in die tiefen Schluchten des Valle Cannobina.
Die hochgelegenen Almen wie auch die tiefer gelegenen Kastanienwälder wurden sorgfältig bewirtschaftet und gepflegt. Im 18. und 19. Jahrhundert blühte das Leben im Cannobinatal wie in all den anderen piemontesischen Tälern. Auf diesen alten Alpwegen sind wir heute unterwegs und tauchen dabei ab in die Vergangenheit einer einst blühenden Alp-Landwirtschaft.
Ein Dutzend Bergdörfer uns unzählige Alpsiedlungen existierten im Cannobinatal. 1880 ist der Zenit erreicht und es beginnt die Abwanderung – die blühende Industrie zieht Arbeitskräfte aus den Bergen ab. 1950 tritt die Kastanienkrankheit auf. Die Ernährungsgrundlage wird auf einen Schlag vernichtet. Strukturen brechen zusammen. Alpweiden, Dörfer und ganze Täler werden verlassen. Kulturlandschaften verschwinden und nicht zuletzt eine Lebensform. Ehemalige Alpsiedlungen, Dörfer und Verbindungswege geraten in Vergessenheit – wir haben sie wieder aufgespürt. Crealla, das letzte Dorf, das in einem Kraftakt mit einer Fahrstrasse erschlossen wurde, hatte zur Blütezeit 600 Einwohner – heute sind es noch deren 20…
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