Seit 2004 durchquere ich mit meinem Mountain-Bike die wilde Westalpen und erlebe dabei eine Landschaftsvielfalt, die mich bis heute zutiefst beeindruckt. Auf zehntausenden (Trail)-Kilometern überquerte ich unzählige Pässe und fuhr durch die vergessenen Täler dieser einzigartigen Alpenlandschaft. Inspiriert vom GTA-Weitwanderweg, reifte in diesen Jahren die Idee einer «GTA für Biker». Die «Alta via Piemonte»! Erst als ich nach unzähligen Rekko-Touren die Idee eines klassischen Nord-Süd-Alpencrosses aufgab, ergaben sich neue Ideen und Möglichkeiten und es zeichnete sich eine unglaubliche Tour ab. Schnell war klar, dass dies der härteste Alpencross wird, den ich je in meinem Tourenprogramm hatte. Eine Tour die zehn okzitanische Täler miteinander verbindet und wo in sechs Tagen gerade mal zwei Dörfer und fünf Weiler passiert werden. Auf steilen Uphills geht es über höchste Pässe und auf anspruchsvollsten Abfahrten hinunter in die gottverlassenen Talschlüsse der längsten Westalpen-Täler. Möglichst nah dem Alpenhauptkamm folgend erlebten wir Natur- und Gebirgsszenerien, die uns für immer prägen!
Vor allem die Talschlüsse dieser Okzitanischen Täler sind bis heute von der anhaltenden Abwanderung geprägt. Der «moderne» Tourismus konnte nur punktuell Fuss fassen. Die Berge und Talschaften sind bis heute einzigartig und ursprünglich geblieben. Jedes dieser zehn Täler hat seinen ureigenen Charakter und wir erleben diesen auf intensivste Art. Die Westalpen-Faszination fesselt uns bereits auf den ersten Metern. Asphalt gibt es heute keinen einzigen Meter und nach drei Minuten sind wir auch bereits auf dem ersten Trail unterwegs. Am ersten Tag ist das Gelände sehr verwinkelt, über unzählige Pässe führen alte Militärwege und leiten in atemberaubende Talschaften. Wir biken ins Tal der Partisanen, resp der Resistenza, welche hier im zweiten Weltkrieg einen idealen Rückzugsort hatte. Hier konnten sie sich verstecken und im Notfall schnell über verschiedene Pässe in andere Täler oder gar nach Frankreich fliehen. So zart wie die Abfahrt beginnt so knackig wird sie bereits nach wenigen Metern – ein Appetizer auf das was uns die kommenden Tage verwöhnen wird. Für mich ein wichtiger «Gradmesser», um zu sehen, wie dynamisch die Gruppe im schwierigsten Gelände unterwegs ist. Ich bin begeistert und sehe bereits jetzt, dass es perfekt passt und wir maximale Westalpen-Bike-Emotionen erleben werden.
Zwei Mal überqueren wir am zweiten Tag den Alpenhauptkamm und somit die Wasserscheide zwischen Ligurischem Meer und Adria. Satte sechs Stunden Singletrail an einem Stück. Etwas was man in den Alpen selten findet. Der zwölf Kilometer lange Trail-Uphill führt uns immer mehr in die Abgeschiedenheit. Der Übergang hat für mich was magisches. Nach dem das Tal ein langgezogener Rechtsbogen macht öffnet sich der Blick zum 3841 Meter hohen Monviso welcher sich genau vor uns auftürmt. Abgesehen vom letzten Tag werden wir ihn jeden Tag – aus unterschiedlen Perspektiven – sehen. Er ist für mich das Sinnbild der Westalpen. Ein Berg, der meine Camps und Crosse in den Westalpen fast immer in irgendeiner Form prägt.
Der Übergang war für den Saumverkehr wenig interessant, er ist schlicht zu abgelegen. Benutzt wurde er in früheren Jahrhunderten, als die Bevölkerung von Armut und Hunger nach Frankreich getrieben wurde. Uns Biker verwöhnt der Übergang mit tibetanischen Dimensionen wie man sie in den Alpen nur selten erlebt.
In den ersten drei Tagen ist das Gelände noch etwas weicher und geschwungener. Die topografischen Unterschiede zwischen der West- und Ostseite des Alpenhauptkamms ist sehr beeindruckend. Während die Alpen auf der französischen Seite während 150 bis 200 km langsam zum Rhonetal hin abfallen, sind es auf der italienischen Seite keine 40 km bis zur Poebene hinunter. Erst noch sind wir aus den tiefen Tälern des Piemonts emporgefahren, erwarten uns ab der Wasserscheide weite Hochplateaus und weich geschwungene Übergänge. Das Ganze in Höhenlagen zwischen 2500 – 3000 Meter. Wir geniessen einen «Ruhetag», bevor es ab morgen wieder zurück ins Piemont geht und deutlich steiler wird…
Es ist ein langer Tag und entsprechend früh sind wir auf unseren Bikes. Wir erleben eine Morgenstimmung die uns zusätzlich Energie gibt. Auf einer uralten Salzhandelsroute geht es dem Montviso (3841) entgegen. Ein kleines Gletscherfeld krallt sich noch an seine steile Flanke. Mit grosser Kraftanstrengung ist der Trail noch bis in hohe Lagen fahrbar. Dann ist die ehemalige Handelsroute verfallen. Nur noch Bruchstücke des historischen Wegtrassees sind erkennbar.
Heute sind wir den ganzen Tag im Banne des «re di pietra» (König aus Stein) unterwegs. Auf fünf Kilometer Luftlinie kommen wir an seinen Gipfel ran. Vor drei Jahren stand ich oben auf dem Gipfel – ohne Bike… Seine Dominanz gewährt eine Aussicht, die wohl zu den beeindruckendsten in den Alpen zählt. Im Angesicht dieses Berges überqueren wir einer der beeindruckendsten Pässe des gesamten Alpenbogens. Nur Dank der historischen Salzhandelsroute und den alten Militärsteigen können wir mit unseren Bikes in diese wilde Hochgebirgswelt vordringen.
In den Tälern der Valdenser wird es noch wilder denn die Reliefunterschiede werden immer grösser. Die Geologie erinnert schon eher an die Seealpen. Das Gestein ist hart und der Aufwand für die Kriegsbaumeister war immens. Kaum zu glauben in welch wilde und einsame Bergwelten hier solche Militärwege gebaut wurden. Wenig abseits dieser Wege befinden sich noch Kanonen mit Baujahr 1916. Es sind die einzigen Geschütze, die ich bis anhin in den Westalpen gesehen habe – zurückgelassen als Mahnmal.
Je nach geopolitischer Ausrichtung des Piemonts wurden die Valdenser (Protestanten im katholischen Italien) in diesen Tälern verfolgt oder als tapfere Krieger und Gebietskenner gegen die Franzosen eingesetzt. Gut möglich, dass diese Wege nur dank ihrem Wissen und Können in diese raue Bergwelt hinein gebaut werden konnten. Auf jeden Fall haben sie einen völlig anderen Charakter als all die anderen Militärwege, die wir bis anhin befahren haben. Spontan erinnert er mich schon eher an die alten Jagdwege von König Emanuele Vittorio in den Seealpen.
Am letzten Tag wartet die grösste Uphill-Herausforderung. Ein längst vergessener Pass führt ins 10. Okzitanische Tal unserer Tour. Nirgends ist die Zivilisation so weit weg wie hier. Der lange Aufstieg ist definitiv einer der härtesten den ich in den Alpen kenne. Auf der Passhöhe konnten wir dann ein seltenes Schauspiel mitverfolgen. Zwei Wölfe durchstreiften den Talboden. Die anwesenden Kühe wurden nervös und wendeten ihre Hörner gegen sie. Die Wölfe zeigten kein Interesse – auch nicht an der etwas entfernten Schafherde. Sie zogen schnellen Schrittes Richtung Talende wo sie langsam aus unserem Blickfeld verschwanden.
Die Abfahrt fordert zu Beginn volle Konzentration, wird dann aber immer flüssiger. Ein letzter Uphill und dann wartet das Schlussbouquet in Form eines nahezu 20 Kilometer langen Flow-Trails auf uns. In diesem Moment wird mir so richtig klar was wir soeben geschafft. Der Traum von der Alta Via Piemonte – quasi einem “Bike-GTA” – ist in Erfüllung gegangen. Links, rechts und in unserem Nacken hören wir Donnergrollen. Aber Petrus ist auf unserer Seite und wir schaffen es noch sicher bis zum Ziel. Spätestens jetzt bin ich froh, dass wir am Morgen 45 Min. früher gestartet sind…
Es braucht Zeit diese Eindrücke zu sortieren und zu realisieren was wir da geschafft haben. Der ganzen Bikegruppe und Urs, unserem grossartigen Betreuer und Helfer, ein riesiges “grazie mille” für diesen einzigartigen Bikecross. Es war mir eine Ehre mit euch zusammen diese Tour in dieser spektakulären Bergwelt zu erleben und zu erfahren. Die Eindrücke haben sich tief in mein Bikeherz eingebrannt!
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