Im Grenzgebiet zwischen den Cottischen Alpen und den Seealpen, da wo die einsamsten Regionen zwischen dem Piemont und der Provence sind, tauchten wir ein in das wild-alpine Valle Stura. Eine Alpenregion, die sich in den letzten Jahrhunderten – abgesehen von der Abwanderung – kaum verändert hat. Auf spektakulär angelegten Militärtrails erlebten wir eine Landschaftsszenerie, die sich für immer in unser Bikerherz eingebrannt hat.
Im entlegensten Bergdorf des Valle Stura ist die Grenze nah zu Frankreich. Soweit abgelegen vergass man schon mal die Zeit – vor allem im Winter, wenn über Monate das Dorf von der Aussenwelt abgeschnitten war. Der mutigste wagte es dann durch die steilen Lawinenhänge abzusteigen und im Tal nachzufragen, ob Weihnachten schon vorbei ist oder ob das heilige Fest noch bevorsteht.
Für den Schmuggel wie auch für das Militär war die weltentrückte Region strategisch wichtig. Der Schmuggel sicherte der mausarmen Bevölkerung ein Einkommen. Dank ihm, dem Militär, den Eisenminen und der Alpwirtschaft entstand ein Wegenetz, das uns ab dem ersten Tag tief in seinen Bann zieht. Nach Stunden in der Einsamkeit führt dieser Trail hinaus aus den Seealpen, wobei sich gegenüber von uns die Kalkfelsen der Cottischen Alpen auftürmen.
Wir biken über längst aufgegebene Alpweiden. Nur noch an wenigen Orten trifft man Hirten mit ihren Schafen oder den typischen piemontesischen Kühen. Die Natur holt sich das Territorium zurück, welches ihr die Menschen während Jahrhunderten in harter Arbeit abgerungen haben. Im Moment fehlen aber auch diese «letzten Hirten» denn es ist diesen Sommer zu trocken in den Bergen.
Eine einst blühende Kulturlandschaft verwildert langsam. Das unglaubliche Wegenetz, die vielfältigen Traditionen und die reich verzierten Kirchen sind noch Zeugen dieser Zeit. Ein Stück davon können wir auf unseren Bikes noch erfahren und erleben. Eine Gegebenheit, die mich hier im wilden Piemont immer wieder tief beeindruckt.
Gleich über mehrere Pässe und durch unzählige Täler biken wir stundenlang über Trails mitten durch das menschenleere Grenzgebiet von Stura-, Maira- und Ubayetal. Hier erleben wir auf eindrucksvollste Art den Kontrast zwischen der West- und Ostseite des Alpenhauptkamms. Während es auf der Westseite weich geschwungen ist, sind es hier auf der Ostseite tiefe Wandfluchten. Noch nie habe ich auf diesen Trails einen Biker gesehen. Durch den schneearmen Winter und die grosse Trockenheit liegt der Wasserspiegel beim tief unter uns gelegenen Bergsee zehn Meter tiefer als normal.
In dieser Landschaft und auf diesen Trail erleben wir über Stunden meinen persönlichen „Bikehimmel“.
In den südlichen Piemontesischen Tälern kann man noch die okzitanische Kultur und Sprache erleben. Nirgends hatten die Alpen eine marginalere Veränderung als hier. Die Industrialisierung und der Tourismus blieben fast gänzlich aus.
Wir erreichen ein schmales Seitental, welches in den letzten 100 Jahren eine Abwanderung von 99,3% erlebt hat! Während 1890 noch 550 Personen hier lebten, sind es heute noch deren vier. Dies ist der Grund weshalb diese Täler auch als die «schwarzen Täler der Alpen» bezeichnet werden. Eine dieser vier Personen treffen wir noch auf einer wohl 50 Jahre alten Vespa. Vermutlich kommt er gerade von seiner Alpweide, wo er zu seiner Handvoll Kühen geschaut hat.
Aus dem kleinen Seitental kommend gelangen wir über einen Pass und durch diese faszinierende Wiesenflanke wieder zurück zu unserem Haupttal.
Ein Militärpfad schlängelt sich mit über 50 Kehren zum Grenzkamm hoch. Bei einer alten Kaserne aus dem 2. Weltkrieg tauchen wir vollends ein in unser Trailabenteuer. Wir sind mittendrin in einer Tour, welche uns mit der enormen und wilden Abgeschiedenheit der Seealpen voll erfasst und nachhaltig prägen wird.
Mehr denn je wird uns bewusst, dass kein Aufwand zu gross war, um auch in die entlegensten Winkel einen Weg zu bauen. In kaum einer anderen Alpenregion entstanden zwischen 1500 und 1945 mehr Militärwege als hier im Valle Stura. Nur dank diesem umfangreichen Wegenetz können wir heute mit dem Bike in eine der urtümlichsten und wildesten Alpenlandschaften vordringen. Zahlreiche Pflanzenarten, die hier existieren, sind Endemiten wie z.B. der Argentera Steinbrech, der noch aus der Zeit der Dinosaurier stammt. Sie blüht einmal in ihrem Leben, nach etwa 30 Jahren, danach stirbt sie ab.
In den wilden Seealpen wurde von den Strassenbaumeistern des 2. Weltkrieges alles abverlangt. Das Gelände ist rau, das Gestein ist hart und die Berghänge sind enorm steil. In einem schmalen Coulvar – begrenzt von senkrechten Felsflanken – schraubt sich ein Weglein in vielen Serpentinen zum schmalen Passübergang hoch. Genügend Platz gibt es kaum und so musste weiter oben für eine Serpentine gar ein Tunnel gebohrt werden. Der Aufstieg ist steil aber dann öffnet sich das Gelände und es erwartet uns ein weiterer Trail-Leckerbissen.
Es ist für mich ein Privileg und eine unglaubliche Freude, dass ich euch diese Berge, diese Trails zeigen durfte und mit euch zusammen meine «zweite Heimat» erleben konnte. Grazie mille für all diese Stimmungen und diese tief greifenden Emotionen!
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